[DIE NACHFOLGER SIND DIE UNVOLLENDER]


[VOLKER BRAUN: Das Wirklichgewollte]


Abschied der Matrosen vom Kommunismus lautete der Titel eines Bühnenprogramms und einer CD von Hans Eckard Wenzel und Steffen Mensching 1992, worin beide in nachwendischem Sarkasmus verkündeten: "Ach was rot ist wird weiß / und zu Wasser der Schnee / und fließt fort in die eisige See." Das Tauwetter nach dem Kalten Krieg wurde beschrieben als eine politische Entfärbung - was eine Reihe zeitgenössischer Politiker zu der These veranlaßte, es hätte das postideologische Zeitalter begonnen. Und als dann im Sommer 2000 das alte rostige russische Imperium in Form eines U-Bootes in der Barentsee versank, da kullerte noch eine kühle Träne bestätigend hinterher: Ja, der Kommunismus, wie wohl versunken, er mußte untergehen. Nicht zuletzt das Schwarzbuch des Kommunismus hatte das bewiesen: Eine politisch korrekte Abrechnungsschrift aus der Feder gewendeter Altlinker. Die daran vorgeführte neuerliche Verfärbung von rot zu weiß zu schwarz ist symptomatisch für das Zeitalter der Postideologie.

Auch Volker Braun hatte in seinen Texten nach dem Ende der DDR den plötzlichen Schwund von Überzeugungen beschrieben. Etwa in seinem Text Der Wendehals von 1995, in dem der ehemalige Stasioffizier Schaber einen Satz Ernst Blochs ausnutzt: "War es gut, etwas auf die Waage zu bringen, oder belastend? War es besser, wenig aufzuweisen? Die Frage, gar nicht gestellt, gellte in seinen geübten Ohren, er stotterte seine philosophische Antwort (die einen berühmten Lehrsatz verwendete oder wendete): 'Ich bin. Aber jetzt haben sie mich. Darum werde ich nichts.'" Mit ähnlichem Sarkasmus wie die "Matrosen" Wenzel & Mensching betrachtete der ehemalige DDR-Schriftsteller Volker Braun (oder wie ihn Gustav Seibt in seiner Laudatio zur Verleihung des Büchnerpreises nannte: "Büchner seines kleinen Landes") das plötzliche Zerfließen ehemals revolutionärer Ideale (und ihrer diktatorisch-absurder Realexistenz) zu Nostalgie-Soße und Altlasten-Schlamm. Ein kritisches Potential für eine Analyse des zusammengefügten Deutschland war daraus aber (noch) nicht zu gewinnen, zu sehr roch das alles nach Verlustklage, gerade weil es aus dem politisch diffusen "Osten" kam. Und auch, weil Braun nie den politisch korrekten Biermannpfad betreten hatte, der hätte direkter zum Büchnerpreis geführt.

Um sich nicht dem Vorwurf der Klage am versunkenen Objekt DDR auszusetzen, ist es nicht verwunderlich, daß keiner der drei neuen Texte Brauns in Deutschland spielt, sondern in Italien, Rußland und Brasilien. Dennoch sind es Texte auch über Deutschland: In Zeiten der Globalisierung und dem globalisierten Verdampfen der rivoluzione, der Thematik, um die es Braun noch immer geht, wenn auch seinem Protagonisten Prof. Badini nicht: "Sein Thema: la rivoluzione war ihm abhanden gekommen, denn sie hatte stattgefunden, wo man sie nicht machte." Zum Beispiel auch in Deutschland.

Kurz gesagt, pathetisch vermutet, geht es in den Texten um die Ungleichheit oder die Unvereinbarkeit: Von Zeiten und Menschen, Weltsichten und Geschichten, die in einem Raum unvermutet zusammentreffen: "Es trennten sie gerade siebzig oder achtzig Jahre, sie waren Zeitgenossen." Die in jeder der drei kurzen Erzählungen zentrale Szene der Waschung als symbolische Handlung der Aufnahme außenstehender Eingefallener in eine Gesellschaft verfehlt grundsätzlich das Ziel. Statt dessen geht die Frage wie ein Gespenst um: "Was wollen Sie?" Was war gewollt, was war wirklich geworden, was wird gewollt werden - ?

Da ist zu Beginn das alte Ehepaar Baldini, das in einem erkauften Paradies eine Heimat gefunden hat, sich von den friedlich wachsenden Früchten ihrer nicht getanen Arbeit ernährt und den Opportunismus genießt: "Wirft man dem Baum vor, daß er um die Wölbung des Steins herumwächst?" (Solche Bäume nähren sich aus dem farblosen Wasser geschmolzenen Schnees.) Doch dann sind plötzlich Kinder da, Flüchtlinge aus Albanien, Entheimatete. Während der Text weitergeht, die Alten mit den gesäuberten Kleinen, ihren verpaßten Enkeln und Liebhabern, reizend nebeneinander her, kommen sie doch nie zusammen: Die alte Baldini will den Knaben der Polizei überlassen, die Kinder lieben nur sich - und stoßen die Alten schließlich die Treppe abwärts, blutend, mit gebrochenen Armen, ins Abseits. Die Alten sind überholt. Aber die gestellte Frage wird nicht beantwortet.

ähnlich geht es dem alten Borges in Rio, der den Straßenjungen Jorge für sich gewinnen und nutzen will. Da sich der kleine, doch eigentlich lieb umsorgte und auch moralisch belehrte Jüngling gegen seine Vereinnahmung wehrt, mißlingt alle Erziehung. "Daß er, in diesem Anzug, nicht auf die Straße konnte. Daß das keine Kleidung war für den Broterwerb. Daß er, vor den Jungen, bloßgestellt wäre." So wendet der sich erst ab, schließlich mit seinen Freunden gegen den Alten. Der sinkt nur noch zu Boden und schaut erwartungsvoll, aber der Text macht keinen Punkt: Was kommt, hat mit dem Alten nichts mehr zu tun.

Und dann sind in Sibirien noch ein paar Menschen übrig geblieben. Nachdem die Arbeit beendet und der Sozialismus abgelaufen war, "in den ungeheuren Gulli". Einige Gleise liegen noch, wiesen einst die Richtung - aber die Nutzlosen machen sich an sich selbst zu schaffen, zeugen und löschen aus. Darunter eine Sehnsucht nach eigenen vier Wänden, Ordnung also: Wenigstens ein Ort, wenn auch der Bewohner ein Arschloch ist, das ist auszuhalten: Die Waschung fügt dennoch nichts aneinander. An anderer Stelle wird Selbstjustiz geübt und die Hände stehen in der Luft, wer weiß denn schon, was kommen wird: Auch hier kann kein Punkt gesetzt sein.

Denn: Die Geschichten der Alten sind endlich: Doch brechen in sie die vermeintlich Nachfolgenden ein, brechen sie auf - die Geschichte oder die Thematik kann nicht vollendet werden. Was bleibt übrig? - Nein, so geht das nicht: Brauns Prosa ist fern jeglicher Kassenzettelrhetorik: Keine Rechnung, die mit einem Ergebnis zum Abschluß käme. Es gibt keine Antworten und keine Schlußpunkte. Es gibt nur einen einzigen Strich, der das Ungewisse bedeutet: "Der Strich so fest, daß er eine Möglichkeit darstellt, und so dünn, daß er keine endgültige Lösung bietet." Die Nachfolgenden sind schweigsam und bedienen sich der Dinge, wie sie sie brauchen: Messer, Pistole, Rasierklinge - insofern sind sie revolutionär: Aber nur, wie es ihnen nötig erscheint, die Bedürnisse haben sich geändert.

Brauns Größe besteht darin, solch ungeheure Thematik in kurzen raschen scharfen Zügen plastisch zu machen. In einem Satz wird ein Charakter entworfen: "Stepan Jakubik, ein Lehrausbilder, er buchstabierte sich Ich hoch drei." In wenige Bildern wird ein unauflösbarer Konflikt eingeschrieben und ein sozialer Raum hergestellt: Ein Baum, ein Waggon, eine Straße: kurz und prägnant. Vielleicht ist es Brauns Fehler, dies nicht im heutzutage wesentlich mehr beachteten Roman getan zu haben - wie schon seinerzeit nicht mit dem Bodenlosen Satz: "Es sollte ein dickes Buch werden, doch bei mir werden es dreißig Seiten.", sagte er im Inteview mit dem Freitag (27. Oktober 2000). Denn so ist immer die Gefahr, daß das Buch und das Thema doch verschwindet.

Es ist ästhetisch sicher nicht das beste Buch, das Braun geschrieben hat. Zu stilisiert sind manche Gespräche, zu versteckt manchmal die Perspektiven, als daß es leicht, aber gewaltig erscheint. Doch Brauns Sprache will nicht scheinen, ist selbst arbeitend am Thema, zum Glück nicht fertig damit, da das Thema nicht beendet ist - und Braun rief in seiner Büchnerpreisrede: "Mit meinen Gegnern teile ich nicht die Sorge, daß uns das Thema abhanden gekommen ist - nein, es könnte sein, daß wir dem Thema abhanden kommen." Das ist die eigentliche Gefahr: Denn diejenigen, die den Kontrapunkt bilden zu der zufriedenen Zeit postideologischer Politik, die führen das Thema weiter, wenn auch längst nicht so, wie es einmal wirklich gewollt war vor 1989 oder 1969: Sie vollenden diese Revolution ganz sicher nicht, aber sie könnten der Anlaß sein für eine andere. "Sie werden kommen / der Tag ist nicht fern / aus den verwahrlosten Städten / [...] Wir werden erwachen / wie immer zu spät / wenn sie in der Türfüllung stehen / und erbleichend das schärfste / Küchengerät / in ihren Händen zu sehen" sangen schon die "Matrosen" und riefen in die Kulissen: "Seemanns Braut ist die See / sind wir erst einmal an Bord / treibt uns die Sehnsucht fort."

Viel Wasser. Kein Ende.


Volker Braun: Das Wirklichgewollte






Volker Braun: Das Wirklichgewollte.
Suhrkamp Verlag 2001, 150 Seiten.


Diese Rezension ist auch bei www.u-lit.de erschienen.



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© sascha preiß 2005